Reifezeit

 

"Zieh am besten zuerst deine frischen Klamotten an!" ruft Sabine aus der Hofküche, während sie Tee für uns aufgießt. Heute besuche ich die Käserin auf dem Demeterhof Entrup119 im münsterländischen Altenberge. Nach einer kurzer Begrüßung geht es schon los und ich lerne die wichtigste Lektion, bevor ich überhaupt einen Fuß in Sabines Reich setzen darf: Hygiene ist das oberste Gebot in der Käserei. Ich ziehe mich also im Vorraum um, schlüpfe in extra bereitgestellte Besucher-Schlappen und lege eine abwaschbare Schürze um. Hände waschen und desinfizieren, Haarnetz auf den Kopf und dann geht’s durch den Plastikvorhang an den Ort, wo all die Köstlichkeiten aus der Milch der ostfriesischen Milchschafe entstehen.

 



Heute stehen Frischkäsetaler auf dem Programm. Die Milchmenge ist vergleichsweise gering und reicht für den kleineren Kessel. „Die Schafe gehen bald in die Winterpause“, erklärt Sabine. „Im Frühling zur Lammzeit ist der große Milchkessel randvoll. Da ist ganzer Körpereinsatz gefragt, wenn ich für Hart- und Schnittkäse mit der Käseharfe kreuz und quer durch die sogenannte Dickete fahre. Das ist die geronnene Milch, die durch die Zugabe von Lab und Milchsäurebakterien entsteht."

 

Sabines Begeisterung für ihr Handwerk ist ansteckend. Gebannt beobachte ich wie sich die Beschaffenheit der Milch verändert. Sabine zerschneidet die Masse mehrfach behutsam mit einem Spatel in Würfel und prüft, wann der nächste Verarbeitungsschritt folgen kann. „Wenn man die chemischen, physikalischen und mikrobiologischen Prozesse versteht, ist das Käsen kein Hexenwerk. Dann wird man auch mutiger und probiert neue Sorten aus“, verrät sie und ich beobachte weiter, wie sich die immer kleiner werdenden Stückchen von der Molke trennen. Zwischendurch darf die Masse ein paar Minuten ruhen, bis zum nächsten Arbeitsschritt. Zeit genug, um mir ihren Weg ins Käsereihandwerk erzählen zu lassen.


Über Umwege zum Traumberuf

Um bei der Käsesprache zu bleiben, hat Sabine auch ihre Reifezeit gebraucht, um ihr Glück als Käserin zu finden. Als gelernte Druckvorlagenherstellerin arbeitet sie zunächst als Mediengestalterin in Münchner Werbeagenturen. Mit den Bergen quasi vor der Tür entdeckt sie ihre Liebe zum Wandern. Sie verbringt ihre Urlaube in der Schweiz und Österreich. „Irgendwann hatte ich die vage Idee, ein paar Wochen in den Bergen zu leben und mit Tieren zu arbeiten“, erinnert sie sich. Die gebürtige Duisburgerin stürzt sich gerne in neue Abenteuer und lernt in den Schweizer Alpen Graubündens die harte Arbeit bei einem Senner kennen. Nach sechs Wochen geht sie schweren Herzens nach Hause ins "normale" Leben. Doch sie kehrt jeden Sommer zurück und bekommt das Angebot, die Alp zu leiten. Die körperlich harte Arbeit und die alleinige Verantwortung sind ihr auf Dauer jedoch zu viel und so wechselt sie auf Höfe in Südtirol und im Berner Oberland, auf denen sich die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt. "Aber es kam die Zeit, das Kapitel Berge komplett zu beenden. Dann bin ich zu meinem Freund nach Norddeutschland gezogen". Sabine arbeitet wieder als Grafikerin, merkt aber bald: „Ich will wieder in die Natur und handwerklich arbeiten.“ Sie sucht und findet auf ökojobs.de eine Anzeige von Entrup119. Schlussendich bekommt sie den Job und wagt mitten in der Coronazeit im Frühjahr 2021 den Umzug nach Altenberge: „Ich war total happy, wieder käsen zu dürfen. Auf dem Gemeinschaftshof mit Gemüsebau, Schafhaltung, Hofladen und Bildungsarbeit ist ein tolles Team und immer was los. Hier kann ich genau das tun, was ich liebe.“


Käsereihandwerk auf Entrup119: von Quark bis Altenberger Käse

Eine fundierte Ausbildung bekommt Sabine durch die Fortbildung zur Fachagrarwirtin in handwerklicher Milchverarbeitung. Innerhalb von drei Monaten schafft sie sich das nötige Fachwissen drauf, um die verschiedenen Käsesorten herzustellen: die Milch vorbereiten und einlaben, Bruch waschen und schneiden, pressen und salzen, affinieren, also den Käse während des Reifens fachkundig pflegen und vieles Weitere rund um Tierfütterung, Hygiene und Vermarktung. 

Wenn Sabine über ihren Käse erzählt, merkt man ihr die Liebe zu diesem besonderen Handwerk an: "Jede Sorte braucht Geduld und Fingerspitzengefühl, besonders der Hartkäse."

 

 „Über Wochen und Monate lagern Altenberger Bergkäse, Entruper Schnittkäse, Gouda mit Bockshornklee, mediterranen Kräutern, Kreuzkümmel oder Koriandersamen und die Eigenkreation Formagella im Käsekeller. Jeder Laib wird täglich mit Salzlake bedeckt, abgebürstet, gesäubert und gewendet.“ Sabine ergänzt: „Wir 'coaten' nicht, also verpacken die Käselaibe nicht in eine Hülle aus Kunststoff oder Wachs. Die Rinde kann man deshalb auch mitessen.“



Eine Herausforderung ist der Camembert. Die empfindlichen Weißschimmelkulturen brauchen ein präzises Klima und sehr viel Aufmerksamkeit. Umkompliziert dagegen sind die Frischkäsetaler – innerhalb eines Tages hergestellt und mit Gelinggarantie. „Den Bruch verfeinere ich gerne mit Kräutern, sodass wir verschiedene Sorten anbieten können.“ Heute kommen Rosmarin und Brennnessel zum Einsatz. Die seien bei den Mitglieder der Solidarischen Landwirtschaft besonders beliebt und werden morgen mit den Ernteeinheiten in die Abholdepots gebracht.

Solidarische Landwirtschaft: Gemeinsam für Nachhaltigkeit, Qualität und Genuss

Entrup119 ist nämlich ein gemeinschaftlich getragener Bio-Bauernhof. "Unser Hof wird von einer Verbrauchergemeinschaft getragen und die Mitglieder finanzieren unsere Arbeit durch feste monatliche Beiträge. Im Gegenzug bekommen sie einen Anteil der Ernte und der Milchprodukte plus selbst gebackenes Brot." Das Konzept ist eine weltweite Bewegung. In Deutschland gibt es aktuell über 500 SoLawi-Höfe, Tendenz steigend. Die Genossenschaft Entrup119 eG hat die Hofstelle vom Verein „Initiative 119 e. V. gepachtet und betreibt den Hof mit Gemüseanbau, Schafhaltung, Käserei, Bäckerei und Hofladen. Sabine ist von der Genossenschaft angestellt und verarbeitet übers Jahr rund 30.000 Liter Schafmilch. Es gibt viele Gründe, warum sich die die Genossenschaft zur Solidarischen Landwirtschaft verpflichtet hat. Neben Planungssicherheit spielen auch ökologische, nachhaltige und soziale Gründe eine Rolle. Wer mehr erfahren möchte, findet auf der Website des Hofes Informationen.


Neues wagen, wenn die Zeit reif ist

Sabine ist glücklich in ihrem Beruf als Käserin und kann jeder und jedem nur raten, Neues zu wagen. Ihre berufliche Reise hat sie durch die Welt der Werbeagenturen über Berghütten bis in eine kleine Käserei im Münsterland geführt. Gerade die Vielfalt dieser Erfahrungen lässt sie heute mit Leidenschaft ihrer Berufung nachgehen. Und wer weiß, vielleicht inspiriert ihre Geschichte andere dazu, mutig neue Wege einzuschlagen, wenn die Zeit dafür reif ist.

(Fotos: Gerhild Bellinghausen, Jutta Waldhelm)

 

Weitere Informationen

Entrup119

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