Teilen statt wegwerfen – Ein Montag im foodsharing-Café

 

Kommen darf, wer mag. Essen darf, wer Hunger hat. Mithelfen darf, wer Zeit hat. Mehr Worte braucht es eigentlich nicht, um das Konzept des foodsharing-Cafés in der B-Side am Münsteraner Hafen zu beschreiben - Überraschungsmenü inklusive. Jeden Montag gehört die Küche im soziokulturellen Zentrum B-Side am Münsteraner Hafen einem Freiwilligen-Team von foodsharing Münster. Sie schnippeln, kochen, probieren, improvisieren und stimmen spontan ab, was als nächstes ausgepackt, geputzt, gewaschen und verarbeitet wird. Hinter der Aktion steckt ein sehr ausgeklügeltes Organisationssystem aus Online-Plattform, persönlicher Absprache, Kooperation und dem Aktionismus vieler engagierter Menschen, die sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzen. 


 

Finde den Fehler

An dem Montag meines Besuchs gibt es Risotto mit Pilzen, ein Couscous-Gericht, Salat, Obst, Kuchen und später noch eine Gemüsepfanne, weil der Andrang so groß ist. Doch was auf den ersten Blick so sinnvoll und nett wirkt, hat seinen Ursprung in den beschämend-skandalösen Auswüchsen unseres Lebensstils. Allein in Deutschland wird mehr als ein Drittel der produzierten Lebensmittel vernichtet - eine riesige Menge - rund 11 Millionen Tonnen jährlich – einiges wird bereits aussortiert, bevor es in die Verkaufsregale soll, weil es schadhafte Stellen hat oder nicht den optischen Ansprüchen genügt. Hinzu kommt das, was Konsumenten privat wegschmeißen. Dieses System verursacht sinnlos immense Kosten. Gut findet das niemand, außer natürlich diejenigen, die Geld damit machen. Wir Endverbraucher tragen das kranke System mit. Der Wandel muss also, wie bei allen großen Veränderungen, aus der Zivilgesellschaft kommen.  


Die internationale Bewegung gegen Verschwendung

Eine der Bewegungen, die das ändern möchte, ist foodsharing. Ehrenamtliche foodsaver und foodsharer gibt es überall auf der Welt und es werden immer mehr. Der Begriff und das Modell variieren. In manchen Ländern heißt die Bewegung „foodsharing“, „foodsaving“, „solidarity fridge“, „community fridge“ – wobei Registrierung, Abholung und Kooperationen von Ort zu Ort unterschiedlich sind. Der Ursprung liegt in der Container-Bewegung , wobei es mittlerweile legale Formen der Lebensmittelrettung gibt. foodsharing geht es jedoch um weit mehr: „Wir wollen mit unserer Lebensmittelrettung nicht in erster Line umsonst Essen anbieten, sondern zeigen, dass wir alle an die Wurzel des Problems der Überproduktion heranmüssen“, erklärt Anton, einer der Aktiven der Gruppe in Münster. Das System zu verändern erscheint als Mammutaufgabe. Schließlich hängt Lebensmittelverschwendung mit vielen Bereichen der Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Bildung, Landwirtschaft, Ethik und des sozialen Miteinanders zusammen. 

In Münster gibt es foodsharing seit 2014. Die Ortsgruppe organisiert Kühlschränke und Abholstellen (so genannt Fairteiler), vernetzt Privatleute und Betriebe und betreibt Bildungs- und Infoarbeit in der Stadt. Sie haben Kooperation mit Supermärkten, Bäckereien, Mensen oder Restaurants und holen jede Woche deren aussortierte Lebensmittel ab. Viele Produkte gelangen über die Tauschplätze zu Menschen, die sie gut gebrauchen können. Eine Übersicht der Fairteiler gibt es auf der Website

 


Das foodsharing-Café in der B-Side ergänzt das Angebot, denn nicht alles, was gerettet wird, muss sofort verarbeitet werden. Anton spricht aus, was viele der Freiwilligen von foodsharing bewegt: „Wir machen das, weil wir davon überzeugt sind, dass es niemals zu rechtfertigen ist, noch gute Lebensmittel als Abfall zu sehen. Das ist ethisch verwerflich und unsozial.“  Er ist als einer der Organisatoren des foodsharing-Cafés auch für die digitale Organisationsplattform zuständig, die den Gesamtapparat von über 400 Freiwilligen erst funktionsfähig macht. Denn hinter der Idee steckt eine Menge Arbeit und Einsatz: Logistik, Lagerung, Hygiene, Absprachen mit Spenderbetrieben, Organisation des Cafés und Spendenakquise für die Miete in der B-Side sind Alltagsthemen, die im Hintergrund abgewickelt werden müssen.

Gemeinsam viel bewegen

Seit der offiziellen Eröffnung am 2. Juni 2025 ist das foodsharing-Café für viele eine fester Termin in der Woche. Jede und jeder kann herkommen. Neben dem leckeren Essen der foodsharing-Crew, steht für viele das Treffen mit Freunden und Kennenlernen neuer Leute im Mittelpunkt. In den Sitzecken und an langen Tischen sieht man von Familien mit kleinen Kindern über Studierende bis hin zu Rentner*innen jedes Alter. Die B-Side ist als Ort der Begegnung stadtweit bekannt – ein für alle offenes, selbstorganisiertes Kulturzentrum am Mittelhafen ohne Konsumzwang – also perfekt geeignet, um die foodsharing-Idee für eine große Öffentlichkeit sichtbar und erlebbar zu machen.

„Wir kochen so lange wie die Leute Hunger haben und so viel, wie Zutaten vorhanden sind.“ erklärt Philipp. „Aber spätestens um 20 Uhr ist Schluss.“. Der Lehramtsstudent ist seit zwei Monaten dabei und einer der rund 400 Freiwilligen in Münster. Er berichtet begeistert von den Möglichkeiten, die das Ehrenamt bietet:  „Die entspannte Atmosphäre, die netten Leute, die Werte, die hier gelebt werden und dass man sofort aktiv mit anpackt - das gefällt mir. Und nebenbei kann ich mir den ein oder anderen Lebensmitteleinkauf sparen, Flexibiltät und Kreativität vorausgesetzt." 

Was fordert foodsharing? 

Wenn es in ferner Zukunft so sein sollte, dass diese Verschwendung beendet ist, dann ist aus foodsharing im besten Fall eine neue soziale Bewegung geworden, die weit über den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung hinausgeht. Hier ein paar Forderungen, die zeigen, dass wir das Problem interdisziplinär in Politik, Recht und Gesellschaft anpacken müssen, um es nachhaltig zu lösen:

foodsharing fordert, dass Lebensmittelverschwendung entlang der gesamten Wertschöpfungskette wie zum Beispiel unfaire Handelspraktiken oder die Verpflichtung zu ästhetischen Standards im EU-Recht neu geregelt wird.  

Ein Wegwerfverbot für Supermärkte nach dem Vorbild Frankreichs wäre ein Meilenstein. Supermärkte ab einer bestimmten Betriebsgröße müssen dort ihre aussortierten Lebensmittel zur Spende anbieten. 

Bundesweit einheitlich geltende politische Rahmenbedingungen würde die Weitergabe von Lebensmitteln rechtlich absichern. Ein Vorbild dafür ist das „Gute-Samariter-Gesetz“ aus Italien, das Organisationen wie foodsharing rechtlich als Endverbraucher einstuft, ohne dass die Hygienestandards darunter leiden. 

Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) für Produkte mit sehr langer Haltbarkeit wie z.B. Reis oder Nudeln gehört abgeschafft. Für Produkte, die weiterhin MHD-pflichtig sind, muss die Willkürlichkeit bei der Festlegung des MHD aufgehoben werden, sodass die Vergabe nur noch nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgt. 

Ernährungsbildung und Lebensmittelverschwendung gehört in die Lehrpläne der Schulen inklusive wie alles mit Klima- und Umweltschutz zusammenhängt. Dazu sind Weiterbildungen für Lehrkräfte, Bildungsbeauftragte und Erzieher*innen wichtig. Die foodsharing-Akademie stellt bereits Materialien zu dem Thema bereit und hilft dabei, Wissen über Lebensmittel und deren Wertschätzung zu vermitteln.

Die Vision der Lebensmittelretter*innen

„Ja, wir träumen von einer Welt, in der das lokale sowie globale Ernährungssystem alle Menschen auf dieser Welt satt und zufrieden macht, in der die meisten Lebensmittel aus lokalem Anbau stammen und ein kleinerer Teil über einen internationalen Handel zu fairen Bedingungen stattfindet. Wir wünschen uns eine Welt, in der die Grenzen unseres Planeten gewahrt werden und der nachhaltige Umgang mit unseren Ressourcen eine Selbstverständlichkeit ist. In unserer Vision braucht es die Organisation foodsharing nicht mehr, da es Lebensmittelverschwendung gar nicht mehr gibt, sondern jeder Mensch und jedes Unternehmen dafür Sorge trägt, dass produzierte Nahrung nicht vergeudet, sondern in dankbaren Mägen landet. 
Auf dem Weg zu dieser Vision bedarf es eines dringend notwendigen und grundlegenden Umbaus unseres Ernährungssystems und Konsumverhaltens im Sinne einer echten Ernährungssouveränität. Denn wir wollen nicht länger in einer Welt leben, in der global agierende Agrarkonzerne bestimmen, was wir anbauen und essen – einer Welt, die geprägt ist von exzessivem Konsum und Überfluss, Umweltzerstörung und globaler Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur.
Nur gemeinsam können wir den selbstzerstörerischen Charakter unserer Überflussgesellschaft stoppen: Jeder Mensch besitzt die Fähigkeit, einen Teil dazu beizutragen und verantwortlich zu handeln. Daher arbeiten die Engagierten bei foodsharing weiter daran, dass das notwendige Retten von Lebensmitteln irgendwann überflüssig sein wird. Wir setzen uns mit unserer Kraft dafür ein, dass die systematische Überproduktion und die daraus resultierende Verschwendung von Lebensmitteln endlich ihr Ende findet." 

 

Ausgzeichnet mit dem Umweltpreis der Stadt Münster

Das Foodsharing-Projekt ist pragmatisch, sinnstiftend und politisch zugleich. Es entsteht etwas, das einen Missstand durch positive Energie in etwas Gutes verwandelt. Auf lokaler Ebene hat das Engagement Strahlkraft: Foodsharing e. V. hat 2024 den Umweltpreis der Stadt Münster bekommen. 

Wer im foodsharing-Café oder bei der Orga mithelfen möchte, kommt am besten mal persönlich vorbei. Durch kurze Kennenlern-Slots und Einweisungen können sich auch Leute mit wenig Zeit bei foodsharing engagieren.


foodsharing-Café in der B-Side
Jeden Montag, 15 - 20 Uhr 

Am Mittelhafen 42
48155 Münster

 
Foodsharing Münster
Mehr Informationen zur Ortsgruppe, zu Ehrenamt, Spendenmöglichkeiten und Terminen gibt's auch auf der Website. 

 

Münsteraner Akteure der Lebensmittelrettung im Überblick

foodsharing Münster 

  • Ein lokaler Ableger der Bewegung foodsharing, ehrenamtlich organisiert und partizipativ

  • Ziel: Lebensmittel retten, die ansonsten entsorgt würden; Ressourcen schonen.

  • „FairTeiler“ übers Stadtgebiet verteilt, wo Menschen Lebensmittel kostenlos abgeben bzw. mitnehmen können

  • Jede Person kann mitmachen – als foodsaver, Spender oder Nutzer

  • Schwerpunkt liegt auf der Weitergabe und dem Verzehr von Lebensmitteln, die noch genießbar sind und nicht im Müll landen sollten

  • Fokus auf „Lebensmittel retten“ statt klassischer Sozialverteilung

  • kostenlos oder auf Spendenbasis

  • gelebte Gemeinschaft: Treffen, Austausch, offenes Engagement, „foodsharing-Café“, Schnippeldisco auf Events und in Kooperation mit anderen Akteuren, AGs, Workshops zum Thema Lebensmittelrettung

Münster Tafel 

  • gemeinnütziger Verein in Münster, der Lebensmittel, die qualitativ in Ordnung sind aber z. B. vom Handel nicht mehr verkauft werden können, sammelt und an bedürftige Menschen verteilt

  • Menschen mit geringem Einkommen oder in schwieriger wirtschaftlicher Lage können die Ausgabe in Anspruch nehmen. Anmeldung, Ausweis, ggf. Nachweis der Bedürftigkeit ist Voraussetzung

  • Die Lebensmittel werden über Ausgabestellen verteilt

  • Bedürftigkeit steht im Fokus, nicht primär das Retten von Lebensmitteln 

  fairTEILBAR 

  • ist ein Mix ist aus Laden, Sozialprojekt und Bildungsstätte. Im eigenem Ladenlokal (Hammer Strasse 60, 48153 Münster) mit offenem Bezahlkonzept "Pay-what-you-feel" werden noch genießbare Lebensmittel aus Überproduktionen, wo das MHD überschritten ist oder mit optischen Mängeln angeboten, die sonst im Müll gelandet wären

  • Zusätzlich zur Lebensmittelabgabe gibt es Workshops, Bildungsarbeit und eine Projektküche, in der gerettete Lebensmittel weiterverarbeitet werden, um die Haltbarkeit zu erhöhen z. B. zu Suppen, Marmeladen, Chutneys, um sie zu verkaufen

  • offen für alle mit Interesse an Nachhaltigkeit und Lebensmittelrettung

  • Vermittlung von Wissen zur Lebensmittelverschwendung und nachhaltiger Ernährung


Quellen: 

https://www.umweltbundesamt.de/themen/abfall-ressourcen/abfallwirtschaft/abfallvermeidung/lebensmittelabfaelle#undefined 

https://www.wwf.de/themen-projekte/landwirtschaft/ernaehrung-konsum/lebensmittelverschwendung/das-grosse-wegschmeissen  
https://www.welthungerhilfe.de/lebensmittelverschwendung
https://www.bmleh.de/DE/themen/ernaehrung/lebensmittelverschwendung/studie-lebensmittelabfaelle-deutschland.html
https://www.wwf.de/themen-projekte/landwirtschaft/ernaehrung-konsum/lebensmittelverschwendung/das-grosse-wegschmeissen

Hintergründe und Links:
- https://wiki.foodsharing.de/Foodsharing_und_Politik
- https://www.duh.de/ackern-fuer-die-tonne/
- https://buendnislebensmittelrettung.de/
- https://www.foodsharing-akademie.org/

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